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Nicht schunkeln


karsandra

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Quelle: Badische Zeitung vom 24.12.2005

Am heiligen Abend wird der eine oder andere in die Kirche gehen wollen, und es wird für die meisten von uns das einzige Mal in diesem Jahr sein, dass sie ein Gotteshaus betreten. Einige hilfreiche Hinweise mögen deshalb nicht schaden.

Seltengänger tun zunächst einmal gut daran, sich vor dem Kirchgang die passende Bekleidung herauszulegen. Den Damen sei geraten, weder zu kurz noch schulterfrei zu tragen. Warm, aber unauffällig scheint angemessen.

Seltengänger beiderlei Geschlechtes sollten sich sinnvollerweise vor dem Kirchgang mittels einer kleinen Mahlzeit eine gewisse Grundlage verschaffen, da Kirchen in der Regel keine Restaurationsbetriebe sind und auch kleinere Imbisse nicht gereicht werden. Selbst Süßigkeiten - Eiscreme oder Mon Cherie - stehen nicht zur Disposition. Auch der Verzehr mitgebrachten Knabberwerkes ist in Kirchen eher unerwünscht.

So gestärkt macht sich der Seltengänger auf den Weg. Er erkennt sein Ziel vor allem daran, dass statt der üblichen Reklamebeschriftung ein bis zwei von weitem sichtbare Türme Attraktion signalisieren. Wir schreiten nun durch das Eingangsportal und sind zunächst überrascht von der ungeheuren Höhe des Raumes. Dies hat freilich nichts zu besagen: Dort oben spielt sich auch im weiteren Verlauf des Abends nichts ab.

Der irritiert schweifende Blick des Seltengängers wird nun vergeblich nach einer Platzanweiserin suchen - zumal der Besuch der Veranstaltung kostenlos ist und also Eintritts- oder Platzkarten nicht ausgegeben werden. Man wird sich demnach - ohne freilich zu rennen oder zu schubsen - einen Platz auf einer der aufgestellten Bänke zu erobern haben.

Nun wird, entgegen den Erwartungen des Seltengängers, weder das Licht verlöschen noch die Werbung beginnen. Vielmehr erheben sich die Versammelten zur Begrüßung eines Mannes, der im Vordergrund des Raumes die weitere Gestaltung des Abends übernehmen wird.

Bei gelegentlichen, gemeinsamen Gesängen sei dem Seltengänger geraten, weder lauthals ihm unbekannte Lieder zu improvisieren, noch bei rhythmischen Stellen in das beliebte Schunkeln zu verfallen, etwa mit Hilfe untergehakter Nachbarn.

Im Falle von zu absolvierenden Gebeten empfiehlt sich dem Seltengänger ein gesenkter Blick und das Verschränken der Finger. Eine kleine Hilfe: In fehlerfreier Haltung betet der Seltengänger, wenn er bei diesem Ritual die Hände etwa so hält, als ob er seinen Wellensittich erwürgen wollte.

Im weiteren Verlauf des Abends wird der Solist im Vordergrund einen erhöhten Platz erklimmen, um von dort aus eine Rede zu halten. Da darf nun, am heutigen Abend, mit der Weihnachtsgeschichte gerechnet werden.

Hier scheint ein kleiner Hinweis angebracht: Bei dem Kind, das in diesem Zusammenhang Erwähnung finden wird, handelt es sich um die gleiche Person, die wir im Vordergrund des Raumes unschwer als einen ans Kreuz genagelten Herrn erkennen können. Dies nur, damit Sie auch das Ende der Geschichte kennen, von dem heute Abend freilich nicht die Rede sein wird.

Der Mann auf der Kanzel wird im übrigen einige mehr oder weniger temperamentvolle Appelle an das allgemeine Wohlverhalten der Anwesenden richten. Solche rhetorischen Höhepunkte sollen schweigend zur Kenntnis genommen. Von Applaus oder gar Pfiffen ist generell abzusehen. Prinzipiell gilt: Der Selten- verhält sich wie der Ständiggänger passiv; unabhängig von der Dauer der Festrede.

Auch musikalische Zuspielungen sollen keineswegs mit Rufen wie “ Give it to me!” oder “ Lauter!” gestört werden, auch wenn es sich um Live-Musik und ein ungewöhnlich umfangreiches Instrument namens Orgel handelt.

Zwischendurch soll weder geraucht noch gar frühzeitig gegangen werden. Gegen Ende der Veranstaltung bekommen Sie von Ihrem Nachbarn einen Beutel voller Geld überreicht. Überschwänglicher Dank ist unangebracht. Sie sollen lediglich Ihrerseits Geld in diesen Beutel hinein- und das Gerät schweigend weiterreichen.

Auch beim letzten gemeinsamen Aufstehen wird dann nicht die Nationalhymne zu Gehör gebracht, sondern ein kleines Abschiedslied geistlicher Natur intoniert, an dessen Ende Sie sich gemessenen Schrittes aus der Kirche zu entfernen haben.

Der Rest des Heiligen Abends ist dem Seltengänger wieder zur freien Gestaltung überlassen, wobei ihm das eben Erfahrene Richtschnur sein mag oder auch eher nicht.

Wir wünschen euch allen ein frohes und besinnliches Fest. :)

Viele Grüße

Sandra und Karsten

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